
Herr Michaelsen, was war Ihr unheimlichstes Erlebnis bei einem Interview?
1990 interviewte ich den Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sechs Stunden lang in seinem Haus in Neuchâtel. In der letzten Stunde philosophierte er über die Notwendigkeit des Todes und sagte: «Wären wir unsterblich, gäbe es auf der Erdoberfläche nur einen Brei von Einzellern. Da ich 30 Kilo Übergewicht mit mir herumschleppe, werden meine Sargträger nicht zu beneiden sein. Vielleicht sollte ich diese Herren in meinem Testament bedenken.» Eine Woche später meldete das Radio Dürrenmatts Tod.
Ihr Beruf ist es, Fragen zu stellen. Wollen Stars auch etwas von Ihnen wissen?
Nein, ich bin für sie bloss das Trampolin, welches sie für ihre Luftsprünge brauchen. Nach fünf Stunden Interview sagte der Grosskritiker Marcel Reich-Ranicki zu mir: «Wir haben so lange ausschliesslich über mich gesprochen, jetzt möchte ich doch auch mal etwas über Sie erfahren. Sagen Sie, wie fanden Sie mein letztes Buch»? So ein Verhalten muss einen aber nicht kränken, denn Selbsthunger und Totalegozentrik sind nun mal die Existenzgrundlage jedes Künstlers. Wer nicht glaubt, die Erdachse laufe durch ihn hindurch, wird es nicht weit bringen. Ohne Grössenwahn keine Grösse.
«Der Kardinalfehler ist, zu viele Interviews zu geben.»
Was richtet Erfolg bei Menschen an?
Erfolg radikalisiert den Charakter. Er macht Kluge klüger, Dumme dümmer. Die Strafe des Erfolgs sind Selbstzweifel. Je grösser das Talent, desto gnadenloser stellt man sich selbst in Frage. Glücklich macht Erfolg nur dann wirklich, wenn man andere scheitern sieht, am besten einen guten Freund oder eine gute Freundin. Das erzählen Stars Ihnen aber erst nach der zweiten Flasche Wein.
Woran merken Sie, dass jemand beim Interview lügt?
Wer interviewt wird, gibt seine Lieblingsmaske als Gesicht aus und erzählt erst einmal das, was er über sich lesen möchte: schmeichelhafte Heldenlegenden oder rührende Geschichten über Aufstieg, Absturz und Wiedergeburt. Eine Faustregel lautet: Je pointierter und süffiger eine Geschichte klingt, desto weniger Glauben sollte man ihr schenken. Dass Stars oft nicht die Wahrheit sagen, muss einen nicht wundern, denn keiner von uns erträgt sich ohne Selbstretusche. Es gibt allerdings kalkulierte Mythomanen, bei denen das ärgerlich wird. Mir sitzen öfters Stars gegenüber, die ihr Leben in immer neuen Versionen erzählen, welche sich gegenseitig ausschliessen. Was sie als ihr Leben ausgeben, ist in Wahrheit reine Belletristik. Da kann man sich nur mit dem Satz trösten, dass jede Maskerade auch eine Demaskierung ist.
Was machen Stars in Interviews falsch?
Der Kardinalfehler ist, zu viele Interviews zu geben. Die Tabuisierung der Privatsphäre ist der erste Schritt zur Mythenbildung. Greta Garbo hat in ihrem Leben nicht mehr als 14 Interviews gegeben. Mysteriös zu sein, hält die Neugier des Publikums wach.
Woran spüren Sie, dass ein Interview gut läuft?
Wenn Menschen vom blossen Antworten ins lebendige Erzählen kommen. Es geht um Signifikanz. Man ist auf der Spur nach charakteristischen Details, in denen sich Struktur und Essenz eines Lebens enthüllen.
« Berühmtheit ist eine Maske, die sich ins Gesicht frisst. »
Wann leiden Sie bei Interviews?
Wenn mir ein Schwall detaillierter Dummheit entgegenschlägt und ich das Gefühl habe, klüger zu sein als der Interviewte. Niemand schafft es, Steine zu melken oder aus Staub Glitzer zu machen. Wenn vor Ihrem Mikrofon Leute sitzen, deren Popularität grösser ist als ihre Begabung, können Sie nur verlieren.
Interviews müssen heute in der Regel von den Interviewten schriftlich autorisiert werden. Was erleben Sie dabei?
Beim Autorisieren lernt man Menschen mitunter genauer kennen als beim Interview. An den Änderungen oder Streichungen erkennen Sie exakt, wo die Eitelkeiten und Schmerzpunkte liegen. Ich hatte Peter Handke mal nach seiner damaligen Lebensgefährtin Katja Flint gefragt, einer deutschen Schauspielerin. Seine Antwort war: «Gehen Sie sich doch ficken!» Das hat er bei der Autorisierung stehenlassen. Eine klägliche Figur ist dagegen der ehemalige deutsche Nationaltorwart Oliver Kahn, der sich gern als «Titan» oder «King Kahn» feiern lässt. Beim Interview führte er sich auf wie eine Bockwurst, bei der Autorisierung wie ein wasserhaltiges Würstchen.
Haben Sie manchmal Mitleid mit Stars?
Ja, denn Berühmtheit ist eine Maske, die sich ins Gesicht frisst. Ein Celebrity zu sein ist ein schrecklicher Energieaufwand, weil man gezwungen ist, dauernd so zu tun als wäre man glücklich. Ein Star, der klagt oder über sein Unglück spricht, würde von seinen Fans wegen Undankbarkeit sofort in den Orkus geschickt werden.
Deformiert Ruhm?
Ja, wer dauernd im Licht steht wird blind. Man kann sehen oder gesehen werden. Einem Star wird rund um die Uhr Gehör geschenkt. Das macht ihn taub für die eigenen Fehler und Irrtümer und ruiniert seine Fähigkeit zuzuhören.
Sitzen Ihnen Stars gegenüber, die auf Drogen sind?
Das kommt vor. Ich habe mal den Popsänger Seal interviewt, als der noch ein Weltstar war. Ich hatte rund sechzig Fragen vorbereitet, stellen konnte ich aber nur eine einzige, denn Seal geriet in einen 90 Minuten langen Laberflash, wie ihn nur Hardcore-Kiffer haben. Als er seinen Monolog beendet hatte, erschien eine robuste Dame mit Klemmbrett und sagte, meine Interviewzeit sei leider abgelaufen.
Werden Sie Opfer von Star-Allüren?
Ja, aber irgendwann begreift man, dass hinter Rüpelhaftigkeit meist Selbsthass steckt und dass Hochmut die Schutzhaltung der Verletzten ist. Ein Star, der zu spät zum Interview erscheint, hat in der Regel keine Allüren, sondern Versagensangst.
« Menschen über 70 sind gefährlich wahrheitsliebend, weil ihnen ihre Zukunft gänzlich egal ist. »
Haben Sie ein Motto?
Nein, aber ich gehe mit der Mahnung eines Freundes durchs Leben: «Am Grab meiner Mutter habe ich nur eines bedauert: ihr nicht zu Lebzeiten ein Kunstwerk aus Fragen vorgelegt zu haben.» Dass man einen Menschen nicht mehr liebt, erkennt man auch daran, dass man keine Fragen mehr an ihn hat.
Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Interviewpartner aus?
Liebe, Bewunderung, Respekt vor grossen Leistungen. Ich mag Menschen, die hoffen, dass es hinter dem Regenbogen ein Land zu finden gibt. Aus diesem Grund mag ich einen Satz von Jean Cocteau: «Wenn mein Haus in Flammen stünde, was würde ich retten? Zuerst das Feuer.» Einen Künstler oder dessen Werk nicht zu achten, würde mich morgens nicht aus dem Bett bringen. Jeder landet früher oder später auf dem Niveau, mit welchem er sich abgibt. Wer den falschen Leuten gegenübersitzt, verbringt sein Leben in einer Marinade aus Ironie und Sarkasmus. Wer will das?
Wer hat Sie besonders beeindruckt?
Alte wie Dürrenmatt, der Theaterregisseur George Tabori oder die Verlegerin Inge Feltrinelli. Menschen über 70 sind gefährlich wahrheitsliebend, weil ihnen ihre Zukunft gänzlich egal ist. Die Aufstiegsstrampeleien liegen hinter ihnen, und es gibt kaum noch Lebende, auf die sie Rücksicht nehmen müssten. Für Interviewer sind Alte das Paradies. Die Klugen unter ihnen verwandeln Einsamkeit in Erkenntnis.
Haben Stars das Recht, Fragen abzulehnen?
Selbstverständlich. Der Hollywood Schauspieler Bruce Willis verblüffte einen Interviewer mal mit der Bemerkung: «Stecken Sie sich Ihre Fragen dorthin, wo die Sonne niemals scheint!» Der Komponist John Cage hat seine Weigerung eleganter formuliert: «Das ist eine sehr interessante Frage. Ich möchte sie nicht durch eine Antwort verderben.»
Mit wem, den Sie interviewt haben, würden Sie privat ein Bier trinken gehen?
Am ehesten mit dem Philosophen Peter Sloterdijk, weil diesem Mann unentwegt lustige Sätze von den Lippen perlen wie: «Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement - er sähe aus wie Heidi Klum.»
Macht Ruhm auf Dauer verrückt?
Die narzisstische Störung ist nicht Ergebnis des Ruhms, sondern dessen Ursache. Nicht die allgemeine Akklamation macht verrückt, sondern es ist die Verrücktheit, die zur Akklamation führt. Der Beweis dafür sind Castingshows und Dschungelcamp-Sendungen. Ein Schlüssel zum Erfolg ist Einsamkeit. Wer Publikum braucht, um zu überleben, ist schon mal auf dem richtigen Weg. Die Gier nach Bestätigung und die selige Trunkenheit bei der Entgegennahme von Applaus finden Sie bei jedem Star.
Welche Einsicht eines Interviewten begleitet Sie durchs Leben?
Sie stammt vom Hollywood-Veteran Steven Spielberg: «Every clusterfuck begins with a mindfuck.» Frei übersetzt: Jeder Riesenschlamassel beginnt mit einer Selbstüberschätzung.
Sie führen seit 40 Jahren Interviews. Wissen Sie, was Ihr Treibstoff ist?
Mich interessiert, was einen Menschen antreibt, was ihn niederzwingt, woran er wächst oder was ihn vernichtet, seine Grösse und seine Verzweiflung.
Sven Michaelsen studierte Literatur und Geschichte. Sein Markenzeichen sind porträtierende Gespräche mit den Leitfiguren und Idolen unserer Zeit. 2014 und 2018 wurde er mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.