Herr Joop, wer Ihnen in den achtziger Jahren beim Feiern zusah, sorgte sich um Ihre Gesundheit. Überrascht es Sie, mit 80 Jahren noch am Leben zu sein?‍Jede Dekade hat ihre Moden und Drogen. Da meine Tageslichttauglichkeit mir immer wichtig war, habe ich gewisse Jugendsünden vor einer halben Ewigkeit durch Arbeit ersetzt. Ab einem gewissen Alter ist Selbstdisziplin interessanter als jede Party-Ausschweifung.

Exzess, Selbstvergessenheit, totale Gegenwart: Vermissen Sie das?
Nein, ich will aus dem Zustand der Nüchternheit nicht mehr raus. Ich brauche sie für die kreativen Projekte, welche vor mir liegen. Wenn ich eines Tages das Gefühl habe, mein Leben als Künstler ist abgelaufen, werde ich vielleicht den ganzen Tag nur noch Opium rauchen, um das zu ertragen, was dann vor mir liegt.

«  Ich kenne keine Gleichaltrigen. An Gesprächen über nächtliche Blasenschwäche bin ich nicht interessiert.  »


Kämpfen Sie mit Schwermut und Düsternis?

Ja, in schwarzen Momenten komme ich mir vor wie ein Haushaltsgerät in der Vorsterbephase. Obwohl jemand den Stecker aus der alten Waschmaschine gezogen hat, dreht sie sich stotternd weiter und produziert noch Schaum. Und dann, klack, fällt eine Schraube runter, dann noch eine und die Trommel kommt langsam zum Stehen. Sterben ist Scheisse, aber vielleicht ist der Tod eine grosse, freundliche Umarmung.

Wer Sie näher kennenlernt, ist verblüfft, wie scheu und schüchtern Sie sind.
Ich habe gelernt, meine Schüchternheit zu bewaffnen, und habe alternative Persönlichkeiten entwickelt. Die öffentliche Figur Wolfgang Joop ist ein Doppelgänger, der Auftritte für mich absolviert, während ich zu Hause mein scheues Ich beschütze.

Gibt es ausser Seniorenermässigungen Vorzüge des Altseins?
Ich kenne keine. Age sucks. Der Körper sorgt für eine Kränkung nach der anderen.

Sind Sie im Alter gelassener geworden?
Nein, nur langsamer.

Werden Sie im Alter wunderlich?
Natürlich. Ich sehe mir auf ARTE Sendungen über Bakterien an, das Wunder der Sterne oder die Entstehung unseres Planeten. Hätte ich früher nie gemacht. Vielleicht überlebe ich ja als Bakterie auf einem fremden Stern.

Ertappen Sie sich dabei, Gleichaltrige für Angehörige einer älteren Generation zu halten?
Ich kenne keine Gleichaltrigen. An Gesprächen über nächtliche Blasenschwäche bin ich nicht interessiert.

Löschen Sie auf Ihrem Smartphone die Kontaktdaten von Menschen, sobald sie gestorben sind?
Nein, das käme mir gemein vor.

Wann haben Sie das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht?
Ich war im August in Hörnum auf Sylt.

Glauben Sie, sich mit 80 einigermassen zu kennen, oder wird man im Alter sich selbst immer mehr zum Rätsel?
Ich werde immer noch nicht ganz schlau aus dem Menschen hinter meinen Augenlidern. Wir alle leben zwei, drei oder vier Ichs und werden immer eins davon bis zum Ende unseres Lebens nicht kennenlernen. Das Drama ist, dass wir uns nicht mit den Augen der Menschen sehen können, denen wir uns am nächsten fühlen. Ich weiss weder wer ich als Gegenüber bin, noch wie ich mich anfühle. Wir gehen Beziehungen ein, um das herauszufinden und uns selbst zu spüren. Aber was die Augen der anderen sehen, das bin nicht ich. Ich würde gern wissen, wie ich auf mich wirke, wenn ich mir in einem Restaurant gegenübersitze. Dieses Rätsel wird aber nie aufgelöst werden. Das verstärkt meine ohnehin vorhandene Melancholie.

Wie viele Jahre liegen zwischen Ihrem Spiegelbild und dem Bild, das Sie selbst von sich haben?
Bis vor ein paar Jahren hätte ich gesagt: «I'm forever forty.» Heute sehe ich im Spiegel die Frage: Wieviel Zeit bleibt dir noch? Genetisch habe ich gute Aussichten. Meine Mutter starb mit 95 an einem Aneurysma im Kopf, ein Sekundentod, den sie wahrscheinlich gar nicht gespürt hatte. Mein Vater starb mit 92 beim Singen eines Liedes aus seiner Jugend. Mein Grossvater sagte mit 94: «Nanu, wer kommt denn da?» - und war tot.

Hadern Sie mit dem, was Sie im Spiegel sehen?
Selbstverständlich. Egozentrische Männer betrachten ihr Äusseres mit einer Selbstkritik, die der von Frauen in nichts nachsteht. Im Spiegel begegnet mir leider ein älterer Herr, den ich nicht vorhergesehen habe. Das einzig Gute daran ist, dass Hadern immer mein Schlüssel zum Glück war. Selbstzweifel sind ein Schutzschild gegen die allgegenwärtige Banalität, welche uns tröstend in den Arm nehmen will.

Ist das Altsein schlimmer, wenn man früher einmal schön war?
Meine Fotoalben zeigen mir, dass ich zu keiner Zeit hässlich war, aber Schönheit ist ein Kapital, das nicht ewig arbeitet. Die geriatrische Beauty Joan Collins soll gesagt haben: «Schön geboren zu sein ist wie reich geboren zu sein und langsam bankrottzugehen.» Den Blick in den Spiegel vermeide ich immer öfter, weil der, welcher dort auftaucht, zwei widerstreitende Gefühle in mir auslöst: Das bin ich und das bin ich nicht. Man könnte sagen, ich sehe eine KI-Version von mir, die noch in der Testphase ist.

Spüren Sie manchmal das Verlangen, bei Ihnen zu Hause die Spiegel abzuhängen und ohne Ihr Bild zu leben wie einst als egofreies Kind?
Ja, es muss ungeheuer befreiend sein, losgelöst vom eigenen Spiegelbild zu leben. Unsereins würde sofort jede Menge IQ-Punkte abgeben, um wieder naturglatt zu sein. Ich hatte schon als Kind eine perfektionistische Vorstellung von meinem Aussehen. Dass ich diesem Idealbild nicht entsprach, führte zu einer tiefen Unsicherheit. Die Lösung schien zu sein, mich in der Kunst der Verführung zu üben. So wurde aus Selbstzweifeln Gefallsucht.

Der Schriftsteller Martin Walser schrieb mit Ende 80: «Man ist alt, das stimmt. Aber man hat keine anderen Wünsche oder Absichten als jemand, der 20 Jahre jünger ist. Der Unterschied: Man muss jetzt so tun, als hätte man ganz andere Wünsche und ganz andere Absichten als ein 45-Jähriger.» Ist das Altsein eine Heuchelei vor Jüngeren?
Ja. Das Alter ändert nichts an den Wünschen, Begierden und Fehlern, die man hat. Da aber nicht jeder alt wird, empfinde ich es als Privileg, zu den Überlebenden zu gehören. Alter kann auch die Freiheit sein, sich von alten Obsessionen zu befreien, zum Beispiel von der Furcht, dass mit dem Verlust der Fruchtbarkeit die sexuelle Macht verschwindet wie eine biblische Strafe. Beim Niederringen der eigenen Besessenheiten hilft weder die Flucht in die Vergangenheiten, noch die Kriegserklärung gegen den körperlichen Zerfall. Den Kampf gegen das Alter hat noch niemand gewonnen. Man kann aber erlöst sein von dem Zwang, sich ständig mit anderen vergleichen zu müssen.

Erträgt man im Alter seine Mitmenschen nur noch, wenn sie einem zuhören?
Zumindest lässt die Neugier auf Menschen nach. Man findet die eigene Vergangenheit interessanter als die der anderen. Am neugierigsten bin ich auf das, was ich noch könnte, auf Talente von mir, die ich noch nicht entdeckt habe. Am meisten Angst habe ich vor Untätigkeit.

«  Narzissmus ist ein Gift, das auf Dauer die Persönlichkeit zersetzt.  »

Im Alter werden die Huren fromm, sagt der Volksmund. Beschäftigen Sie Themen wie Gott und das Jenseits?
Der Abgrund hat mich in meinem Leben mehrfach magisch angezogen. Meine Schutzengel haben in diesen Phasen jedes Mal Überstunden schieben müssen. Bei wem soll ich mich dafür bedanken? Die französische Philosophin Simone Weil sagte, dass es Gott gebe, merke man daran, dass er nicht da sei. Er habe uns die Erde geschenkt mit dem Auftrag, sie zu gestalten – wie Eltern für ihr Baby ein Kinderzimmer einrichten. Falls im Jenseits ein Entwurf für mein Leben mit den Sternen kreist, so danke ich Gott. Über ihn staunen durfte ich schon des Öfteren.

Sie sind rund 30 Jahre lang zu Wahrsagerinnen gegangen.
Damit habe ich 2006 aufgehört. Damals schenkte eine Wiener Schauspielerin mir am Strand von Dubai ihren Rosenkranz, der vom Heiligen Vater in Rom gesegnet worden war. Sie sagte: «Ich war gelähmt und kann jetzt wieder gehen, deshalb brauche ich den Rosenkranz nicht mehr. Er soll sie beschützen.» Ihr Rosenkranz wurde mein Talisman. Ich habe ihn meiner Mutter beim Sterben auf die Brust gelegt.

Ein Glaubenssatz von Ihnen lautet, Kreativität sei der Reparaturversuch einer verletzten Seele, und nur ein grosser Schmerz führe zu einer grossen Karriere. Was ist Ihre Wunde?
Als Junge zeigte ich meinem Vater eine Zeichnung von mir, auf die ich wohl gerade allzu stolz war. Seine Reaktion bestand darin, mich zu Selbstzweifeln anzuhalten. In diesem Moment verlor ich mein Urvertrauen. Selbstsicherheit ist nie zu mir durchgedrungen. Die Krise wurde mein Existenzgefühl. Für schöpferische Menschen ist diese Grundausstattung von Vorteil, denn der Nährboden für Kreativität ist ein Mix aus Mut und quälenden Selbstzweifeln. Beides ist mir bis heute geblieben.

Was haben Sie über Eitelkeit gelernt?
Eitelkeit in verdaulicher Dosierung resultiert aus dem schlichten Bedürfnis, anderen gefallen zu wollen. Die Optionen, sich optisch zu optimieren, sind heute immens. Ich verstehe jeden, der sich nicht mit dem Entwurf abfinden will, den Mutter Natur ihm mitgegeben hat. Es gibt aber noch eine zweite Form von Eitelkeit. Sie versteckt sich oft unter schlecht sitzenden Anzügen. Diese Leute wollen mit Protz und Getöse kompensieren, was ihnen an Anmut fehlt. Ihre Eitelkeit kennt keine Demut und ist deshalb toxisch.

Sind nur unsichere Menschen eitel?
Eitle Menschen glauben meist nicht, dass sie es wert sind, geliebt zu werden. Sie stellen die Frage «Liebst du mich?» aus Verunsicherung, nicht aus Übermut. Auch wenn sie ein «Ja» hören, zweifeln sie weiter. Dieses ständige Misstrauen macht eitle Menschen so anstrengend. Romantikern sei gesagt: Menschen, welche die Liebe am meisten verdienen, werden am seltensten von ihr belohnt.

Wie unterscheiden Sie Eitelkeit und Narzissmus?
Narzissmus ist ein Gift, das auf Dauer die Persönlichkeit zersetzt. Laut Ovids Metamorphosen war Narziss ein schöner Jüngling, der von beiderlei Geschlechtern begehrt wurde, aber niemanden erhörte. Als er sein Spiegelbild im Wasser einer Quelle sah, verliebte er sich in sein eigenes Bild, ohne zu erkennen, dass es nur eine Spiegelung war. An dieser unerfüllten Liebe starb er. Narziss ist eine todtraurige Figur, die zeigt, dass übertriebene Selbstverliebtheit niemals ein Happy End hat.

«  Man blickte auf die Leute herab, die heute das trugen, wozu wir ihnen gestern geraten hatten.  »


Bei was heben Sie den Finger: Eitelkeit oder Narzissmus?

People of my kind kennen beides. Eitelkeit kann einen Menschen sich entfalten lassen wie eine japanische Papierblume. Ohne ein gewisses Mass an Selbstobsession gehen jedem Kreativen früher oder später Ehrgeiz, Kraft und Produktivität aus.

Haben Sie in Ihrem Leben genug geliebt?
Auf meine Weise schon. Es ist ein Wunder, was die Liebe alles aus einem machen kann. Nur eine Variante der Liebe verpasst zu haben, ist Grund genug zu verzweifeln.

Was bereuen Sie in Ihrem Leben?
Bei öffentlichen Bekenntnissen von Reue werde ich misstrauisch, weil Scham nichts ist, was man nach aussen trägt. Vor Publikum Reue zu bekennen, ergibt nur Sinn, wenn die Vergebung mitgeliefert wird.

Bei wem sollten Sie sich noch entschuldigen?
Bei meinem Vater. Bei meiner Geburt war er im Krieg. Später kannte ich ihn nur von Fotos. Als er nach sieben Jahren in russischer Gefangenschaft nach Hause kam, war er für mich ein Fremder, dessen Geschichten mich langweilten. Es hätte sich gehört zuzuhören, wenn der eigene Vater vom Krieg und anderen erschütternden Erlebnissen erzählen will.

Angenommen, es erscheint eine wahrheitsgetreue Biographie über Sie. Empfehlen Sie das Buch?
Ich würde mich bedeckt halten. Die Wahrheit ist eine schmallippige Dame. In dieser Haltung steckt eine grosse Weisheit, denn Wahrheiten sind oft sehr hässlich und verletzend und das Gegenteil von raffiniert.

Einen Teil Ihrer Popularität verdanken Sie Ihrer Begabung für schlagzeilenträchtige Thesen. So behaupteten Sie, dass Moderedakteurinnen «kollektiv schlecht gevögelt aussehen». Ihre Begründung im Stern lautete 1997: «Schauen Sie sich doch nur deren Look an: Trauerkluft mit Sonnenbrille. Dieser Beruf erzieht zu Boshaftigkeit, Missgunst und Frustration. Wenn Königshäuser wie Chanel einladen, merken die Damen natürlich, dass sie selber gar nicht das Geld für diesen pompösen Lifestyle haben. Diese selbst ernannten Geschmacks-Schiedsrichterinnen haben doch früher bloss die Kleiderkammer verwaltet. Und dann sehen sie dauernd diese hübschen Models, denen sie berufshalber auch noch Puderzucker in den Arsch blasen müssen. In Wahrheit freuen sich diese Nattern natürlich diebisch, wenn eines dieser Mädchen wieder out ist. Dann sitzen sie (…) um die Guillotine herum und triumphieren: ›Hah, die ist endlich auch weg vom Fenster!‹ Das ist ein Schandkarussell, welches nie zum Stillstand kommen darf.»
Finden Sie es besonders originell, mir mit einem Zitat zu kommen, das fast 30 Jahre alt ist? Ich war Mitte der Neunziger ein dummer Bengel mit einer grossen Klappe und hatte mich charakterlich und intellektuell nicht gerade weiterentwickelt. Man hätte mir eine runterhauen sollen. Zu meiner Entschuldigung kann ich sagen, dass Fashion-Menschen damals nicht nur fies zu anderen waren – sie haben auch noch dauernd sich selbst verraten. Man blickte auf die Leute herab, die heute das trugen, wozu wir ihnen gestern geraten hatten.

«  Nichts macht Menschen länger glücklich als eine gelungene Schönheitsoperation – Betonung auf gelungen.  »


Der Produktdesigner Peter Schmidt hat für Sie Parfümflakons gestaltet. In einem Interview mit dem SZ-Magazin sagte er 2015: «Wolfgang ist eine tragische Figur. Er war völlig unterfordert im Leben. Mit seiner sprühenden Begabung und Schnelligkeit im Kopf hätte er früh nach Paris, London oder New York gemusst. Stattdessen ist er im Land geblieben und eine Drama-Queen geworden. Das ist eine ganz grosse Tragödie.»

Redet der Herr über sich selbst? Und wo steht geschrieben, dass Begabung und Smartness dringend exportiert werden müssen? Auch ohne Deutschland auf Dauer zu verlassen, habe ich mich auf den Laufstegen in Paris, Mailand und New York wacker gehalten.

Nach einem halben Jahrhundert Berufserfahrung: Welches Talent ist in der Mode das wichtigste?
Man muss sich den Platz zwischen Kunst und Kunsthandwerk sichern und ein Gefühl für Timing mitbringen. Ein erfolgreicher Designer befriedigt Begehrlichkeiten, die er selbst erschafft. Der Kunde sieht etwas Neues und denkt: Das wollte ich schon lange haben!

Glauben Sie, Sie haben Ihren Erfolg selbst zuwege gebracht, oder ist er etwas, das Ihnen widerfahren ist?
Es gibt einen Kalenderspruch, in dem eine grosse Wahrheit steckt: «Erfolg hat viele Väter, Misserfolg ist ein Waisenkind.» Im Grunde erstaunt mich meine Karriere bis heute. Als ich Anfang der siebziger Jahre als Designer anfing, gab es in Deutschland keine Vorbilder in der Mode. Der sogenannte Zeitgeist führte Regie und machte Figuren wie Karl Lagerfeld, Jil Sander und mich möglich. Wir waren mit den richtigen Looks zur rechten Zeit am richtigen Ort.

Karl Lagerfeld erzählte einmal, er habe schon als kleiner Junge gewusst, dass man seine Mode eines Tages in den Schaufenstern auf der Champs Élysées sehen werde.
Es gibt offenbar Leute, die pränatal wissen, wer und was sie einmal werden wollen. Ich war das Gegenteil, ein Träumer, der anstatt eines Berufswunsches tausend Sehnsüchte hatte. Nur wenn ich zeichnete, war ich mir meiner selbst sicher. Meist zeichnete ich Frauenporträts und sogenannte naturgetreue Akte. Die Zeichnungen entlockten meinen Mitmenschen die ersten Ahs und Ohs meines Lebens. Der Zufall wollte es, dass ich nach Paris eingeladen wurde, um für die Schweizer Illustrierte Modezeichnungen von der Haute Couture anzufertigen. Da ich ein hübscher Junge war, nahm die Verlegerin der Zeitschrift mich überall hin mit. Doch hübschen Jungs geht es wie schönen Frauen: Man traut ihnen nicht zu, etwas lange durchzuhalten. Ich fühlte mich zwar allen unterlegen, lernte aber schnell, dass man das Buch der sieben Posen gelesen haben muss, wenn man noch nichts zu sagen hat. Mein Wunsch, bedeutend zu sein, führte zu der Entschlossenheit, um jeden Preis durchzuhalten. Fake it till you make it.

Mit Karl Lagerfeld wurde 2019 der Phänotyp des Modezaren zu Grabe getragen. Seither taucht Ihre Branche kaum noch in den bunten Blättern auf.
Die grösste Kunstleistung von Lagerfeld war die Erschaffung einer sozialen Skulptur gleichen Namens. Die Mode wird immer beides sein: Disziplin und Exzess, Euphorie und Depression. Der oberste Glaubenssatz lautet, dass der beste Entwurf noch nicht gemacht wurde. Mit der Zeit geht einem auf, dass man die Mode − wie auch die Liebe − nicht zu sehr lieben darf, denn beide verraten die, welche ihr verfallen sind. Fashion Victims erkennt man an ihrem fehlenden Sexappeal, doch Unzufriedenheit ist der erste Schritt zum Erfolg. Irgendwann begreift man: Cool ist nicht das, was man trägt, sondern wie man sich darin hinstellt. Die falsche Pose macht das schönste Kleidungsstück zunichte.

Hat die Mode ihre Kraft verloren?
Sie entmystifiziert sich, weil sie seit Jahren nicht von der Stelle kommt. Idealerweise ist Mode eine Bewegung, welche die Veränderungen unserer Zeit spürt und illustriert. Sie ist intuitive Soziologie in textiler Form. Wenn ein Zeitabschnitt am Ableben ist, ist es die Mode, welche ihn beerdigt. Wichtiger als Mode ist heute der Wunsch, die Morphologie des eigenen Körpers zu verändern. Neue Brüste oder eine Nasenkorrektur sind dringender als das neue It-Bag. Nichts macht Menschen länger glücklich als eine gelungene Schönheitsoperation – Betonung auf gelungen.

Wissen bedeutende Modedesigner insgeheim, dass alles schon mal gemacht, getan und gesagt worden ist?
Die Älteren von ihnen begreifen das irgendwann. Das grosse Geheimnis ist aber, den richtigen Zeitpunkt und Kontext zu erkennen, etwas wiederkehren zu lassen. Auch die genialste Kollektion fällt durch, wenn sie zu früh kommt.

Welche Phrase in Ihrem Metier möchten Sie am liebsten verbieten?
Eine Frau steht in einem neuen Outfit vor dem Spiegel und fragt: «Bin ich das?»

Wer in der Mode nötigt Ihnen heute am meisten Respekt ab?
Demna Gvasalia, der Kreativdirektor von Balenciaga. Bereits in seiner ersten Balenciaga-Show 2015 führte er einen neuen Frauentyp vor: zielstrebig, auf Mission, Freundinnen und Männer zurücklassend. Der Eindruck war epochal, wie der von Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto Anfang der Achtziger.

«  Mal wurde mir von den Kindern die Goldmedaille für den allerliebsten Papi umgehängt, dann wieder brauchten sie mich, um mich für irgendwas anzuklagen.  »


Ist der weltweite Siegeszug der Sportswear der endgültige Triumph des Bequemen über das Schöne?

Nein, auch eine Trainingshose kann schön sein. Es kommt auf den Moment und die Umgebung an. Was vorgestern die Handtasche von Chanel war, kann heute der Sneaker von Balenciaga für 1.450 Euro sein.

Wie beschreiben Sie Ihre Art, sich zu kleiden?
Mein Stil ist bewusste Stillosigkeit. Ich suche mir aus meinem Vintage-Fundus Kleinode heraus und beginne mit ihnen zu experimentieren. Das Ergebnis sieht manchmal völlig chaotisch aus, aber so fühle ich mich dann auch. Eine Referenz ans Alter ist, dass ich bequemes Schuhwerk trage.

Welchen über Sie gedruckten Satz haben Sie bis heute nicht vergessen?
Amy Spindler, die Modekritikerin der New York Times, schrieb mal, ich hätte einen seltsamen Geschmack: als würde man zu Sauerkraut Palatschinken essen.

Sie designen zurzeit Kleidung für Ihre beiden Label Looks und Wunderkind/Hessnatur. Auf wie viele Arbeitsstunden kommen Sie in der Woche?
Ich arbeite von Montag bis Samstag acht Stunden am Tag. Das ist natürlich auch eine Flucht. Ich will nicht über mein Leben nachdenken. Deshalb hasse ich Urlaub.

Sie haben aus Ihrer 15 Jahre langen Ehe mit der früheren Kostümbildnerin Karin Benatzky zwei Töchter. Jette, 56, entwirft Schmuck, Mode und Möbel. Florentine, 51, illustriert Kinderbücher. Wie haben Sie als Vater abgeschnitten?
Mal wurde mir von den Kindern die Goldmedaille für den allerliebsten Papi umgehängt, dann wieder brauchten sie mich, um mich für irgendwas anzuklagen. Wenn sie etwas von mir wollten, waren sie sehr geschickt darin, meine Schwächen und weichen Stellen für ihre Ziele einzusetzen. Bei Männern suchten sie in den ersten Jahren das Anti-Bild zu mir oder die Kopie.

Haben sich Ihre Töchter als Prominentenkinder gefühlt?
Mein plötzlicher Ruhm beträufelte die Familie wie ein Parfüm. Für die Kinder war das manchmal eine grosse Last. Als meine Töchter erwachsen wurden, wünschten sie sich Anonymität. Dann wieder brauchten sie meinen Namen als Sprungbrett für ihre eigenen Projekte. Florentine sieht das anders. Sie sagt, sie habe den Namen Joop zeitlebens als störend empfunden.

2010 drohte ein Erbschaftsstreit Ihre Familie zu zerreissen. Sie warfen Jette Habgier und illegale Praktiken vor und nannten sie «bitchy».
Ein Vater kann die Liebe zu seinem Kind nicht kündigen, aber diese Liebe ist verwundbar. Jette und ich haben verwandte Charaktere, aber was uns verbindet, kann uns auch trennen. Wenn wir uns streiten, sehen wir im anderen oft uns selbst, und das bringt den Topf zum Überlaufen. Jette drückt es so aus: «We are the same, but different.» Die Absolution für deine Fehler als Vater bekommst du erst, wenn du nicht mehr nach ihr fragst.

Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Jette?
Die tiefen Wunden sind geblieben, aber wir haben gelernt, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten.

Was überrascht Sie als Vater bis heute?
Wie schnell ich entwaffnet werden kann. Ich muss auf der Hut sein, denn tun sich beide Schwestern zusammen, sind sie die Herrinnen über meinen Herzschlag. Wir sind ein explosives Terzett mit ständigen Loyalitätskonflikten. Und wenn meine Töchter wütend sind, dann sind sie gleich sehr wütend.

Sie leben seit einem halben Jahrhundert mit Edwin Lemberg zusammen, einem ehemaligen Fotografen, den Sie bei Aufnahmen auf Martinique kennengelernt haben. Seit 2013 sind Sie verheiratet. Gefragt, wie er Ihre Beziehung in einem Satz zusammenfassen würde, antwortete Lemberg 2019: «Wir betreiben seit nunmehr 41 Jahren einen gegenseitigen Missbrauch, der sehr unterhaltsam ist.» Wie lautet Ihr Fazit?
Edwin war drei Jahre lang ein gemeinsamer Freund von Karin und mir. Dann verliebte sich meine Frau in einen anderen Mann. Nach einem 12 Monate langen Abschiedskampf mit ihr voller Tränen und Vorwürfe zog ich zu Edwin in seine ebenso riesige wie leere Souterrainwohnung in der Hamburger Rothenbaumchaussee. Ich guckte auf die Schuhe der Hamburger und zeichnete Modeentwürfe. Da ich die Kosten für die Kinder übernommen hatte, war der Druck enorm. In dieser Zeit habe ich mich an Edwin geklammert. Ohne ihn hätte ich mich das mit Joop! nicht getraut. Das innere Kind wächst nicht parallel zum eigenen Erfolg. Ich brauche bis heute einen Beschützer und jemanden, von dem ich mir Kraft hole. Edwin ist dieser Mensch.

«  Edwin ist dieser Mensch.  »


Woran merken Sie, dass Lemberg 13 Jahre jünger ist als Sie?

Zum Beispiel an der Energie, mit welcher er sich an grosse Projekte von uns herantraut. Wenn ich mich von Menschen oder Ideen blenden lasse, ist er der misstrauische Kontrolleur. Er organisiert unser Geschäfts- und Privatleben und weiss, wie man Koffer packt. Ich bin seine Geisel, weil ich unfähig wäre, den Alltag allein zu bewältigen.

Wann hat jemand zuletzt Ihr Herz gebrochen?
Die Frage enthält eine Behauptung. Simone Weil schreibt von der leeren Stelle im Herzen, die keinen Namen hat. Vielleicht habe ich mein Leben lang den Menschen gesucht, der diese leere Stelle füllt.

Erinnern Sie sich noch an Ihre letzte Liebesnacht?
Ich erinnere mich an alle Liebesnächte – es waren ja nicht so viele. Weil ich des Öfteren wild at heart war, hätten es rückblickend doppelt so viele sein können.

Wenn Sie Ihr Leben Revue passieren lassen: Was ist Ihnen nicht geglückt?
Ich hatte auf die Erfüllung der Utopie gehofft, dass die, welche ich am meisten liebe, untereinander und miteinander voller Liebe sind. Es ist mir nicht gelungen, meine Töchter vor Unglück und Schmerz zu bewahren. Die Trennung der Eltern hat ihre heile Welt zerstört. Sie sind mit einer verletzten Idee von Liebe grossgeworden.

Warum treten Sie kaum noch öffentlich auf?
Mein Beruf hat mich gelehrt, am Ende einer Show nicht zu lange auf dem Laufsteg zu verweilen. Andernfalls erlebt man diese tödliche Stille nach dem Applaus.

Wer wird Ihre Augen schliessen, wenn Sie auf dem Sterbebett liegen: Lemberg oder eine Ihrer Töchter?
Ich hoffe, es wird Edwin sein. Ich weiss, er stünde bereit. Allerdings weiss ich auch, dass er erst einmal in seinem Terminkalender nachschauen würde, ob er gerade Zeit hat. Deshalb wird Jette wohl schneller sein. Ich selbst wäre für so etwas viel zu sentimental. Wenn ich jemandem die Augen schliessen sollte, würde ich sofort in Ohnmacht fallen.

Erd- oder Feuerbestattung?
Ich möchte nicht verbrannt werden, ich bin doch keine Hexe. Gespielt werden soll Love's in Need of Love Today von Stevie Wonder. Diesen Song habe ich immer geliebt.

Wenn Sie beim Abschied von der Erde etwas mitnehmen könnten, was wäre das?
Ein Stift zum Zeichnen und Schreiben. Und ein Buch mit Zitaten von Simone Weil. Eins lautet: «Man muss das Mögliche vollbringen, um das Unmögliche zu berühren.»

Was möchten Sie in den Reden bei Ihrer Beerdigung auf gar keinen Fall hören?
Abschiedsworte wie «Wir werden nie vergessen…». Sätze, die so beginnen, sind eine Lüge. Wer weiss schon, was gesagt und gefühlt wird, wenn man sich an uns erinnert? Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück.

Als was sollen die Menschen Sie nach Ihrem Tod in Erinnerung behalten?
Als begnadeten Dilettanten, der mitten im Namen zwei goldene Eier trug.

No items found.